Die Dimensionen dieses Finales der Europameisterschaft im Londoner Wembley-Stadion sind in jeglicher Hinsicht etwas größer als es viele gewohnt sind. Und so zückte Svenja Huth am Samstagnachmittag erst einmal ihr Handy, nachdem sie auf dem Podium im Scheinwerferlicht Platz genommen hatte. Sie grinste, dann machte sie Fotos von der Kulisse, die sie in den kommenden Minuten während der Pressekonferenz vor sich haben würde: wie in einem Kinosaal gestaffelte Sitzreihen, gefüllt mit sehr vielen Journalisten, zwischendrin jede Menge TV-Kameras und Fotografen.
Die 31 Jahre alte Stürmerin ist das erste Mal zu Gast an diesem legendären Ort des Fußballs, der auch leer schon sehr beeindruckend sei, wie sie fand. Andere der deutschen Nationalspielerinnen kennen Wembley bereits – und verbinden beste Erinnerungen damit. Am 9. November 2019, Huth fehlte verletzt, sind sie hier schon mal gegen England angetreten. Fast 78 000 Zuschauer kamen zu dem Länderspiel, das die Deutschen 2:1 gewannen. Sie wissen also, was sie hier erwartet: viel Gegenwind. Denn wenn all die roten Sitze am Sonntag (18 Uhr, ARD) mit erwarteten 87 000 Menschen besetzt sind, sind die Machtverhältnisse klar.
“Wahrscheinlich gehört Wembley zu Beginn den Engländerinnen”, sagte Martina Voss-Tecklenburg. “Aber es wäre schön, wenn es am Ende uns gehört.” Die Bundestrainerin saß neben Huth, beiden war das Kribbeln anzumerken. “Wir freuen uns, dass wir das Privileg haben, ein Finale gegen England in Wembley zu spielen”, sagte sie. “Ich weiß nicht, ob es für viele von uns viel größere Sportmomente geben wird oder schon gegeben hat – dieser zählt sicher zu den größten.” Die Herausforderung sei neben der sportlichen Aufgabe die Kulisse und Konstellation. “Wir haben einige junge und ein paar ältere Spielerinnen, die ihr erstes Mal in Wembley und das erste Mal ein EM-Finale spielen. Ich glaube, wir können noch nicht genau einschätzen, wie schnell wir das beiseite schieben können.”
Die Last der Erwartungen liegt auf der anderen Seite, glauben die Deutschen
Der Druck, davon gehen sie beim DFB aus, liegt jedoch klar bei den Gastgeberinnen, die so kurz davor stehen, ihre Heim-EM auf bestmögliche und historische Weise abzuschließen. Der Titel wäre der erste für die Englands Frauen und der erste für den englischen Fußball seit 66 Jahren, als die Männer am gleichen Ort mit dem berühmten Wembley-Tor gegen Deutschland die WM gewannen. Die Last der Erwartungen auf der anderen Seite zu wissen, befreit – wie auch die eigenen längst übertroffen zu haben. “Natürlich haben wir etwas zu verlieren: ein Spiel, das wir nicht verlieren wollen”, sagte Voss-Tecklenburg. “Aber wir sind gewachsen an dem, was wir hier erlebt haben. Das wollen wir mitnehmen, das soll uns Stärke geben.”
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Bitte recht freundlich: Nationalspielerin Svenja Huth (rechts) fotografiert die Kulisse der Pressekonferenz.
(Foto: Sebastian Gollnow/dpa)
In der Offensive wird die Bundestrainerin weiter auf Klara Bühl verzichten müssen. Die 21-Jährige vom FC Bayern München hatte sich am Dienstag vor dem Halbfinale mit dem Coronavirus infiziert. Sie ist symptomfrei, aber noch nicht negativ getestet. In den Kader wird sie nicht schaffen. Nach den Regularien der Europäischen Fußball-Union Uefa wäre Bühl wieder spielberechtigt, wenn sie nach fünf Tagen einen negativen Test und keine Symptome vorweist. Man werde sich an das Protokoll halten, das zudem erst medizinische Untersuchungen vorsehe, sagte Voss-Tecklenburg: “Aber wir würden uns riesig freuen, wenn Klara frei getestet würde und zum Spiel kommen könnte.”
Vier Mal hat Voss-Tecklenburg als Spielerin die EM gewonnen, nun könnte es die Premiere als Coach geben. Für die 54-Jährige ist es das erste große Finale als Nationaltrainerin. “Ich saß heute morgen schon im Hotelzimmer mit dem Rücken am Bett und dachte: Wow, das ist wirklich wahr”, erzählte sie. “Ich bin einfach stolz auf den Weg, den wir zusammen gegangen sind. Alles andere kommt, glaube ich, erst später, wenn ich zur Ruhe komme.” Der Mix zwischen Entspannung und Anspannung stimme im Team, sagte Huth. Sie bemerke innerhalb der Mannschaft keine größere Nervosität als sonst: “Wir wollen noch mal alles rausholen, was in unserem Tank ist und das ist eine ganze Menge.”
Rekordsieger Deutschland könnte zum neunten Mal die EM gewinnen, noch nie hat die DFB-Auswahl ein Finale dieses Wettbewerbs verloren. 2009, beim vorletzten Sprung unter die besten Zwei, ging es schon einmal gegen die Engländerinnen: Deutschland gewann 6:2. Um dem möglichen Triumph beizuwohnen, haben sich Bundeskanzler Olaf Scholz, Innenministerin Nancy Faeser, DFB-Präsident Bernd Neuendorf, Bundestrainer Hansi Flick und DFB-Geschäftsführer Oliver Bierhoff angekündigt – der 1996 an gleicher Stelle das Golden Goal zum EM-Titel schoss.
Englands Trainerin spielt die Bedeutung der Partie herunter
Etwa eine Stunde nach Voss-Tecklenburg und Huth saßen dann Englands Nationaltrainerin Sarina Wiegman und Kapitänin Leah Williamson auf dem Podium. Wiegman trat betont gelassen auf und spielte die Bedeutung dieser Begegnung herunter. Ob der größere Druck auf England liege? “Der Druck liegt auf beiden, beide wollen das Finale gewinnen, beide haben ein sehr gutes Team”, sagte die Niederländerin. “Wir fühlen nicht mehr oder weniger Druck. Es ist nur ein Spiel. Ein aufregendes Spiel mit zwei sehr guten Teams, die beide gewinnen wollen.” Natürlich gebe es eine Rivalität mit Deutschland, aber die hätte es auch bei jedem anderen Gegner gegeben, es gehe schließlich um einen Titel. Immerhin eine Kampfansage ließ sie sich entlocken: “Wir sind sehr gut, wir fürchten niemanden.”
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Englands Kapitänin Leah Williamson.
(Foto: Molly Darlington/Reuters)
Die Größe der bevorstehenden Bühne aber beeindruckt die Gastgeberinnen schon auch. Das Endspiel in London könnte einen neuen Rekord aufstellen – bei Frauen wie Männern. Bisher liegt die Bestmarke bei 79 115 Zuschauern, die 1964 zum Endspiel zwischen Spanien und der Sowjetunion in Madrids Estadio Santiago Bernabéu kamen. “Das hat sich lange unerreichbar angefühlt”, sagte Williamson. Es sei ein toller Gedanke, dass nun so viele Fans die Möglichkeit bekämen, dieses Stadion zu füllen und das Frauen-Nationalteam zu unterstützen: “Vor nicht allzu langer Zeit war das nicht der Fall. Und das ist wahrscheinlich eines der schönsten Dinge daran.”
Als die Pressekonferenz der Engländerinnen schließlich beendet war und eine nach der anderen den frisch gemähten Rasen von Wembley betrat, hatten sie ihn noch nicht für sich alleine. Lina Magull, Almuth Schult und Alexandra Popp waren nach dem einstündigen Abschlusstraining aus der Dusche nicht direkt in den Bus gestiegen, sondern zurückgekommen. Sie standen am Rand und machten Fotos von sich mit der Tribüne im Hintergrund. Die DFB-Teammanagerin rief schon nach ihnen, aber sie ließen sich Zeit. Noch einmal diese gigantische Arena in Ruhe genießen – bevor sie sich nicht einmal 24 Stunden später in einen brodelnden Kessel verwandeln dürfte.